Kommentar Industrie 5.0 – ein begrifflicher Nonsens

Von Prof. Peter Liggesmeyer*

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Sollen die in puncto Industrie 4.0 erreichten Erfolge nicht stagnieren, muss auch die neue Bundesregierung der Transformation einen weiterhin hohen Stellenwert einräumen. Von einer fünften industriellen Revolution kann dabei noch keine Rede sein; der Begriff verschleiert vielmehr den tatsächlichen Status quo – eine Kritik.

Wie viel Substanz steckt im zunehmend verbreiteten Ausdruck der Industrie 5.0?
Wie viel Substanz steckt im zunehmend verbreiteten Ausdruck der Industrie 5.0?
(Bild: gemeinfrei / Unsplash)

Zehn Jahre ist es inzwischen her, dass der Begriff Industrie 4.0 vom ehemaligen SAP-Vorstandssprecher Henning Kagermann, dem einstigen CEO des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, Wolfgang Wahlster, und Wolf-Dieter Lukas, inzwischen Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, aus der Taufe gehoben wurde. Zehn Jahre, während der sich die Bezeichnung rund um den Globus verbreitet hat. Industrie 4.0 ist heute eine Marke, die selbst in einer Hightech-Welt für ein nach wie vor besonders innovatives Konzept steht, das den Pioniergeist der deutschen Industrienation wie kaum ein anderes verkörpert.

Angesichts dessen erscheint es umso verwunderlicher, dass neben diese Kernmarke ein neuer Begriff zu rücken scheint. Die Rede ist von „Industrie 5.0“ – eine Bezeichnung, die sich in den vergangenen Jahren in die Diskussion eingeschlichen hat und die suggeriert, die vierte industrielle Revolution sei bereits an ihrem Ziel angelangt. Doch ist dies tatsächlich der Fall?

Keineswegs! Ein realistischer Blick auf den Status quo in puncto Industrie 4.0 hierzulande zeigt: Das, was in der Industrie in vielen Fällen als 4.0 bezeichnet wird, verdient bestenfalls die Bezeichnung 3.5. Natürlich hat sich in den vergangenen Jahren extrem viel hinsichtlich der Digitalisierung und Vernetzung von Produktionen getan, auf das wir zurecht stolz sein können, doch .am Ende der Möglichkeiten sind wie hier noch nicht angelangt.

Auch die Corona-Krise hat dem Thema flexible und wandelbare Produktion zu völlig neuer Bekanntheit verholfen. Laut einer Bitkom-Studie gaben im Frühjahr 2021 ganze 95 Prozent der befragten Industrieunternehmen in Deutschland mit über 100 Beschäftigten an, die Digitalisierung habe in Folge der Pandemie für ihre Firma massiv an Bedeutung gewonnen. Und: Sechs von zehn der Unternehmen sind überzeugt davon, dass ihnen digitale Technologien entscheidend dabei helfen, mit der Krise umzugehen.

Losgröße 1 zum Preis von Massenprodukten

Damit an dieser Stelle jedoch keine Missverständnisse entstehen: Industrie 4.0 darf nicht gleichgesetzt werden mit der Digitalisierung. Die vierte industrielle Revolution geht vielmehr weit darüber hinaus – auch wenn dies in der Öffentlichkeit mitunter noch nicht ganz angekommen zu sein scheint.

In der Diskussion um Industrie 4.0 werden manchmal die Ziele, dann aber auch wieder die zu ihrer Erreichung notwendigen Maßnahmen oder auch die erforderlichen technischen Hilfsmittel als jeweiliger Kern der Transformation dargestellt. Entscheidend ist aber, diese verschiedenen Aspekte gut zu unterscheiden. Das Ziel der zweiten industriellen Revolution war etwa auch keineswegs die Einführung des Fließbands, sondern die Realisierung kostengünstiger Massenprodukte. Um dies zu erreichen, war es notwendig, die Produkte zu standardisieren und arbeitsteilig zu produzieren. Das Fließband ist nur eine geeignete technische Lösung, um das zu realisieren.

Das wichtigste Ziel von Industrie 4.0 ist in diesem Sinne die Ablösung von Massenprodukten – die seit der zweiten industriellen Revolution den Markt beherrschen – durch sogenannte massenindividualisierte Produkte. In der Praxis bedeutet dies: Anstelle einer Massenproduktion soll eine individuelle Maßanfertigung treten, die jedoch ähnliche Stückpreise ermöglicht, wie es bei der Herstellung von Massenprodukten der Fall ist.

Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Losgröße 1. Dafür bedarf es einer Vielzahl von Maßnahmen, die zu ihrer Realisierung technische Lösungen brauchen. So muss beispielweise Kommunikation zwischen den beteiligten Komponenten einer Industrie-4.0-Produktionsanlage möglich sein, was wiederum eine entsprechende Vernetzung erforderlich macht. Das Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz und Digitale Zwillinge sind wichtig in der Industrie 4.0; sie sind aber nur Hilfsmittel, um das Ziel der massenindividualisierten Produktion zu erreichen. All diese technischen Lösungen können zu Industrie 4.0 beitragen. Sie sind aber nicht die Industrie 4.0 an sich und zeigen vielmehr, wie lang der Weg noch ist, um die vierte industrielle Revolution flächendeckend Wirklichkeit werden zu lassen.

Realistische Bestandsaufnahme und Festlegung neuer Aufgaben

Dementsprechend ist auch die Bezeichnung Industrie 5.0 nicht nur irreführend; im Hinblick auf die noch bevorstehenden Aufgaben kann die Einführung dieses Begriffs vielmehr fatale Folgen haben. So ist es insbesondere in Anbetracht der bevorstehenden Bundestagswahl und der damit verbundenen neuen Legislaturperiode gerade jetzt ungemein wichtig, unmittelbar an die bereits erreichten Erfolge bei der vierten industriellen Revolution anzuschließen. Es gilt, eine – wie bereits geschildert – realistische Bestandsaufnahme dessen zu machen, welche Punkte schon verwirklicht wurden und welche noch nicht.

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Darauf aufbauend sollten dann exakt die Themen angegangen werden, die für das folgende Industrie-4.0-Jahrzehnt von besonders großer Relevanz sind. Der Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0 hat die wichtigsten Aspekte hierbei in einem Kommuniqué auf Basis des Spitzendialogs führender Unternehmens- und Gesellschaftsvertreter zusammengefasst, das auf der Website der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften eingesehen werden kann.

Industrie 4.0 für eine klimafreundliche Kreislaufwirtschaft

Insbesondere im Hinblick auf den Aspekt der Nachhaltigkeit, birgt die vierte industrielle Revolution ein enormes Potenzial. Die Ressourcen- und Energieeffizienz vor dem Hintergrund einer klimafreundlichen Kreislaufwirtschaft sind bereits seit Beginn des weltweiten Siegeszuges der Marke Industrie 4.0 feste Bestandteile der Transformation. Angesichts der neu gesteckten Klimaziele der Bundesregierung haben sie nun nochmals mehr an Bedeutung gewonnen – ein Faktor, allein aufgrund dessen Industrie 4.0 gerade in den kommenden Jahren nochmals besonders fokussiert vorangetrieben werden sollte.

Damit die genannten Aufgaben sowie viele weitere in die Tat umgesetzt werden, müssen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft weiterhin eng zusammenarbeiten. Industrie 4.0 ist nichts für Einzelkämpfer – die Transformation ist eine Teamaufgabe, bei der alle gemeinsam an einem Strang ziehen müssen. Gelingt dies, birgt der Wandel für die Industrienation Deutschland ein enormes volkswirtschaftliches Potenzial, das sich noch weit über die klassische produzierende und verarbeitende Industrie hinaus erstreckt.

Erstveröffentlichung auf unserem Partnerportal Industry of Things.

* Prof. Peter Liggesmeyer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering – Dependability am Fachbereich Informatik an der TU Kaiserslautern. Daneben wurde Prof. Liggesmeyer im März dieses Jahres zum neuen wissenschaftlichen Sprecher des Forschungsbeirates der Plattform Industrie 4.0 gewählt.

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